Auszug/Zitat/Quelle

Engels über das Urchristentum


aus: »Zur Geschichte des Urchristentums«

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FRIEDRICH ENGELS

[Das Urchristentum]

Aus was für Leuten rekrutierten sich die ersten Christen? Hauptsächlich aus den »Mühseligen und Beladenen«, den Angehörigen der untersten Volksschichten, wie es einem revolutionären Element geziemt. Und woraus bestanden diese? In den Städten aus heruntergekommenen Freien – Leuten aus allerlei Volk, ähnlich den mean whites [Weiße niedriger Herkunft] der südlichen Sklavenstaaten und den europäischen Bummlern und Abenteurern der kolonialen und chinesischen Seestädte, ferner aus Freigelassenen und besonders aus Sklaven; auf den Latifundien Italiens, Siziliens, Afrikas aus Sklaven; in den Landdisktrikten der Provinzen mehr und mehr der Schuldknechtschaft verfallenden Kleinbauern. Einen gemeinsamen Weg zur Emanzipation aller dieser Elemente gab es absolut nicht. Für sie alle lag das Paradies als verlorenes hinter ihnen. Für den verkommenen Freien die ehemalige Polis, Stadt und Staat zugleich, deren freie Bürger seine Vorfahren dereinst gewesen; für den kriegsgefangenen Sklaven die Zeit der Freiheit vor der Unterjochung und Gefangenschaft; für den Kleinbauern die vernichtete Gentilgemeinschaft und Bodengemeinschaft. Alles das hatte die gleichmachende eiserne Faust des erobernden Römers niedergeworfen, Die größte gesellschaftliche Gruppe, wozu das Altertum es gebracht hatte, war der Stamm und der Bund verwandter Stämme; bei Barbaren nach Geschlechtsverbänden organisiert, bei den städtegründenden Griechen und Italern in der einen oder mehreren verwandte Stämme umfassenden Polis. Philipp und Alexander gaben der hellenischen Halbinsel die politische Einheit, aber eine griechische Nation kam darunter doch nicht zustande. Nationen wurden erst möglich durch den Untergang der römischen Weltherrschaft. Diese machte den kleinen Verbänden ein für allemal ein Ende; Militärgewalt, römische Gerichtsbarkeit, Steuereintreibungsapparat lösten die überlieferte innere Organisation vollends auf. Zum Verlust der Unabhängigkeit und eigenartigen Organisation kam die gewaltsame Beraubung durch die Militär- und Zivilbehörden, die den Unterjochten erst ihre Schätze wegnahmen und sie ihnen dann zu Wucherzinsen wieder liehen, um damit neue Erpressungen zahlen zu können. Der Steuerdruck und das dadurch hervorgerufene Bedürfnis nach Geld in Gegenden reiner oder vorherrschender Naturalwirtschaft warf die Bauern immer tiefer in die Schuldknechtschaft von Wucherern, erzeugte große Vermögensunterschiede, bereicherte die Reichen, verarmte die Armen vollends. Und aller Widerstand der einzelnen kleinen Stämme oder Städte gegen die riesige römische Weltmacht war hoffnungslos…

Und da erschloß sich eine andre Welt. Die Fortexistenz der Seele nach dem Tod des Leibes war allmählich überall in der römischen Welt anerkannter Glaubensartikel geworden. Auch eine Art Belohnung und Bestrafung der verstorbenen Seele für die auf Erden begangenen Handlungen wurde mehr und mehr allgemein angenommen. Mit der Belohnung sah es allerdings ziemlich windig aus; das Altertum war viel zu naturwüchsig-materialistisch, um nicht auf das irdische Leben unendlich höheren Wert zu legen als auf das im Schattenreich; bei den Griechen galt das Fortleben nach dem Tod vielmehr als ein Pech. Da kam das Christentum, machte Ernst mit der Belohnung und Bestrafung im Jenseits, schuf Himmel und Hölle, und der Ausweg war gefunden, der die Mühseligen und Beladenen aus dem irdischen Jammertal hinüberführte ins ewige Paradies. Und in der Tat, nur mit der Aussicht auf jenseitige Belohnung war es möglich, die stoisch-philonische Weltentsagung und Askese zum ethischen Grundprinzip einer neuen, die unterdrückten Volksmassen hinreißenden Weltreligion zu erheben.

in: Geheimnisse der Religion. Eine Anthologie. Berlin 1958

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