Volltext-Dokument

Engels ~ Der Sozialismus des Herrn Bismarck


geschrieben Ende Februar 1880

drucken | zurückblättern | nach unten | Startseite

FRIEDRICH ENGELS

Der Sozialismus des Herrn Bismarck

I. Der Zolltarif

In der Debatte über das berüchtigte Gesetz, daß die deutschen Sozialisten außerhalb des Gesetzes stellte, erklärte Herr Bismarck, daß Unterdrückungsmaßnahmen allein nicht genügen, um den Sozialismus zu zermalmen; man müsse außerdem noch Maßnahmen treffen, um die unbestreitbaren sozialen Übelstände zu beseitigen, um eine regelmäßige Beschäftigung zu sichern und Industriekrisen vorzubeugen und was nicht noch alles. Diese »positiven« Maßnahmen für das soziale Wohl versprach er vorzuschlagen. Denn, so sagte er, wenn man so wie ich die Geschäfte seines Landes siebzehn Jahre lang geführt hat, dann ist man berechtigt, sich als Sachverständigen auf dem Gebiet der politischen Ökonomie zu betrachten; das ist so, als wenn jemand behauptete, es genüge, siebzehn Jahre lang Kartoffeln gegessen zu haben, um die Agronomie gründlich zu kennen.

Auf jeden Fall hat Herr Bismarck diesmal Wort gehalten. Er hat Deutschland mit zwei großen »sozialen Maßnahmen« bedacht und ist noch nicht am Ende.

Die erste war ein Zolltarif, der der deutschen Industrie die ausschließliche Exploitation des inneren Marktes sichern sollte.

Bis 1848 hatte Deutschland keine eigentliche Großindustrie besessen. Die Handarbeit herrschte vor; Dampf und Maschinerie bildeten nur Ausnahmen. Nachdem die deutsche Bourgeoisie dank ihrer Feigheit in den Jahren 1848 und 1849 eine schmähliche Niederlage auf politischem Gebiet erlitten hatte, tröstete sie sich, indem sie sich mit Feuereifer auf die Großindustrie warf. Das Bild des Landes verwandelte sich schnell. Wer Rheinpreußen, Westfalen, das Königreich Sachsen, Oberschlesien, Berlin und die Seestädte 1849 zum letztenmal gesehen hatte, erkannte sie im Jahre 1864 nicht wieder. Überall waren Maschinen und Dampfkraft eingedrungen. Große Fabriken waren größtenteils an die Stelle der kleinen Werkstätten getreten. Dampfschiffe ersetzten nach und nach die Segelschiffe, zunächst in der Küstenschiffahrt und dann im Überseehandel. Die Eisenbahnlinien vervielfachten sich, auf den Werften, in den Kohlen- und Eisenerzgruben herrschte eine Aktivität, zu der sich die schwerfälligen Deutschen bis dahin für völlig unfähig gehalten hatten. Gegenüber der Entwicklung der großen Industrie in England und auch in Frankreich war das alles noch herzlich wenig; aber es war immerhin ein Anfang. Und dann war dies alles ohne jegliche Unterstützung von seiten der Regierungen, ohne Subventionen oder Exportprämien geschehen, und bei einem Zolltarif, der, im Vergleich zu den Tarifen anderer Länder des Kontinents, als stark freihändlerisch bezeichnet werden konnte.

Nebenbei gesagt blieben die sozialen Folgen einer solchen industriellen Bewegung, wie überall, so auch hier nicht aus. Bis dahin hatten die deutschen Industriearbeiter in Verhältnissen vegetiert, die noch aus dem Mittelalter stammten. Im allgemeinen war ihnen gerade noch die Möglichkeit geblieben, nach und nach zu Kleinbürgern zu werden, zu Handwerksmeistern, zu Besitzern mehrerer Handwebstühle etc. Das verschwand jetzt alles. Die Arbeiter, die Lohnarbeiter der großen Kapitalisten wurden, begannen eine beständige Klasse, ein wirkliches Proletariat zu bilden. Aber wer Proletariat sagt, sagt Sozialismus. Außerdem waren noch Spuren jener Freiheiten vorhanden, die die Arbeiter im Jahre 1848 auf den Barrikaden erkämpft hatten. Dank diesen beiden Umständen konnte sich der Sozialismus in Deutschland jetzt am hellichten Tage entfalten und die Massen ergreifen, während der Sozialismus sich vor 1848 auf illegale Propaganda und eine geheime Organisation mit wenigen Mitgliedern hatte beschränken müssen. So datiert die Wiederaufnahme der sozialistischen Agitation durch Lassalle vom Jahre 1863.

Es folgten der Krieg von 1870, der Frieden von 1871 und die Milliarden. Während sich Frankreich durch Zahlung der Milliarden keineswegs ruinierte, brachten sie Deutschland durch ihre Einnahme an den Rand des Verderbens. Von einer Regierung von Emporkömmlingen in einem emporgekommenen Reich mit vollen Händen verschwendet, fielen die Milliarden der Hochfinanz in die Hände, die sich beeilte, sie gewinnbringend an der Börse anzulegen. In Berlin feierten die schönsten Tage des Crédit mobilier ihre Auferstehung. Um die Wette gründete man Aktien- und Kommanditgesellschaften, Banken, Effekten- und Bodenkreditanstalten, Gesellschaften zum Bau von Eisenbahnen, Fabriken aller Art, Werften, Gesellschaften zur Spekulation mit Immobilien und andere Unternehmen, deren industrielles Äußere nur den Verwand für schamloseste Börsenspekulation abgab. Der angebliche öffentliche Bedarf des Handels, des Verkehrs, des Konsums etc. diente nur zur Bemäntelung des zügellosen Drangs der Börsenhyänen, die Milliarden arbeiten zu lassen, solange man sie in Händen hielt. Übrigens hat man dies alles in Paris in den glorreichen Tagen der Péreire und Fould erlebte; es waren die gleichen Börsenspekulanten, die in Berlin unter dem Namen Bleichröder und Hansemann wiedererstanden.

Was 1867 in Paris geschehen war, was des öfteren in London und New York geschehen war, blieb 1873 auch in Berlin nicht aus: Die maßlose Spekulation endete mit einem allgemeinen Krach. Die Gesellschaften machten zu Hunderten bankrott; die Aktien der Gesellschaften, die sich hielten, wurden unverkäuflich; es war ein vollständiger Zusammenbruch auf der ganzen Linie. Um aber spekulieren zu können, hatte man Produktions- und Verkehrsmittel, Fabriken, Eisenbahnen etc. schaffen müssen, deren Aktien zum Gegenstand der Spekulation wurden. Als die Katastrophe hereinbrach, stellte sich jedoch heraus, daß der öffentliche Bedarf, den man zum Vorwand genommen hatte, bei weitem überschritten worden war, daß im Laufe von vier Jahren mehr Eisenbahnen, Fabriken, Bergwerke etc. errichtet worden waren, als bei normaler Entwicklung der Industrie in einem Vierteljahrhundert geschaffen worden wären.

Außer auf Eisenbahnen, von denen wir später sprechen werden, hatte sich die Spekulation besonders auf die Eisenindustrie gestürzt. Große Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden, es waren sogar etliche Werke gegründet worden, die Creusot in den Schatten stellten. Leider stellte sich am Tage der Krise heraus, daß es für diese riesige Produktion keine Verbraucher gab. Große Industriegesellschaften standen vor dem Bankrott. Als gute deutsche Patrioten ersuchten ihre Direktoren die Regierung um Hilfe; um Einfuhrschutzzölle, die sie bei der Ausbeutung des inneren Marktes vor der Konkurrenz des englischen Eisens schützen sollten. Wenn man jedoch Schutzzölle für Eisen forderte, so konnte man sie den anderen Industrien und auch der Landwirtschaft nicht verweigern. So wurde also in ganz Deutschland eine lärmende Agitation für den Schutzzoll organisiert, eine Agitation, die es Herrn Bismarck ermöglichte, einen Zolltarif einzuführen, der diesen Zweck erfüllen sollte. Dieser Tarif, der im Sommer 1879 zum Gesetz erhoben wurde, ist jetzt in Kraft.

Aber die deutsche Industrie hatte immer in der frischen Luft der freien Konkurrenz gelebt. Da sie als letzte nach der Industrie Englands und Frankreichs entstanden war, mußte sie sich darauf beschränken, die kleinen Lücken auszufüllen, die ihr ihre Vorgängerinnen offengelassen hatten, und Artikel liefern, die den Engländern zu kleinlich, den Franzosen zu schäbig waren; es war eine auf niedriger Stufe stehende Fabrikation von ständig wechselnden Produkten, billige und schlechte Waren. Man glaube nicht, daß das unsere Worte sind; das sind wortwörtlich die Ausdrücke, die bei der Einschätzung der in Philadelphia (1876) ausgestellten deutschen Waren von dem offiziellen Kommissar der deutschen Regierung, Herrn Reuleaux, einem Wissenschaftler von europäischem Ruf, offiziell gebraucht wurden.

Eine solche Industrie kann sich auf den neutralen Märkten nur halten, solange in ihrem Lande der Freihandel herrscht. Wenn man verlangt, daß die deutschen Stoffe, Metallwaren, Maschinen der Konkurrenz im Ausland standhalten, dann muß alles, was zur Herstellung dieser Waren als Rohstoff dient, Baumwoll-, Leinen- oder Seidengarn, Roheisen und Draht, zu denselben niedrigen Preisen erhältlich sein, zu denen es die ausländischen Konkurrenten kaufen. Also eins von beiden: Entweder man will weiterhin Stoffe und Produkte der Metallindustrie ausführen, dann braucht man den Freihandel und läuft Gefahr, daß diese Industrien aus dem Ausland kommende Rohstoffe verarbeiten; oder man will die Spinnerei und die Rohmetallproduktion Deutschlands durch Zölle schützen, dann wird es bald mit der Möglichkeit zu Ende sein, Produkte auszuführen, deren Rohstoffgrundlage Garn und Rohmetalle sind.

Durch seinen famosen Tarif, der die Spinnereien und die Metallindustrie schützt, vernichtet Herr Bismarck die letzte Chance, einen Markt im Ausland zu finden, wie er bisher noch für deutsche Stoffe, Metallwaren, Nadeln und Maschinen bestand. Aber Deutschland, dessen Landwirtschaft in der ersten Hälfte des Jahrhunderts einen Exportüberschuß produzierte, kommt jetzt nicht mehr ohne einen Zuschuß landwirtschaftlicher Produkte aus dem Ausland aus. Wenn Herr Bismarck seiner Industrie verwehrt, für den Export zu produzieren, womit wird man dann diesen und viele andere Importe bezahlen, die trotz aller Tarife der Welt nun einmal nötig sind.

Um diese Frage zu lösen, bedurfte man keines Geringeren, als des Genies eines Herrn Bismarck, im Verein mit dem seiner Freunde und Börsenberater. Das wird folgendermaßen gemacht:

Nehmen wir das Eisen. Die Periode der Spekulation und der fieberhaften Produktion hat Deutschland zwei Werke beschert (die Dortmunder Union und die Laura-Hütte), die jedes für sich allein soviel produzieren können, wie der gesamte Konsum des Landes durchschnittlich erfordert. Dann gibt es die riesigen Krupp-Werke in Essen, ein ähnliches Werk in Bochum und zahllose kleinere. Somit ist der Eisenverbrauch im Innern mindestens drei- oder vierfach gedeckt. Man sollte meinen, daß eine solche Lage gebieterisch den schrankenlosesten Freihandel erfordere, der allein imstande wäre, diesem riesigen Produktionsüberschuß einen Absatzmarkt zu sichern. Man sollte es meinen, aber das ist nicht die Ansicht der daran Interessierten. Da es höchstens ein Dutzend Unternehmen gibt, die wirklich ins Gewicht fallen und die anderen beherrschen, so bildet man das, was die Amerikaner einen Ring nennen: eine Gesellschaft zur Aufrechterhaltung der Preise im Innern und zur Regelung des Exports.

Sobald eine Ausschreibung für Schienen oder andere Produkte ihrer Fabriken angesetzt ist, bestimmt das Komitee reihum, welchem Mitglied der Auftrag zufallen soll und zu welchem Preise es ihn akzeptieren muß. Die anderen Beteiligten machen Angebote zu einem höheren Preis, der ebenfalls im voraus abgesprochen worden ist. Dadurch, daß jede Konkurrenz aufhört, besteht ein absolutes Monopol. Das gleiche gilt für den Export. Um die Durchführung dieses Planes zu sichern, deponiert jedes Mitglied des Ringes zu Händen des Komitees einen Blankowechsel über 125.000 Francs, der in Umlauf gebracht und präsentiert wird, sobald der Unterzeichnete seinen Vertrag bricht. Der aus den deutschen Verbrauchern auf diese Weise herausgepreßte Monopolpreis ermöglicht es den Fabriken, ihren Produktionsüberschuß im Ausland zu Preisen abzusetzen, zu denen sich sogar die Engländer weigern, zu verkaufen – und der deutsche Philister (der es nebenbei gesagt verdient) muß die Zeche bezahlen. So wird der deutsche Export wieder möglich, dank der gleichen Schutzzölle, die ihn nach Meinung des breiten Publikums scheinbar zugrunde richten.

Wollen Sie Beispiele? Im vorigen Jahr brauchte eine italienische Eisenbahngesellschaft, deren Namen wir nennen könnten, 30.000 oder 40.000 Tonnen (zu 1.000 Kilogramm) Schienen. Nach langen Verhandlungen übernimmt ein englisches Werk 10.000; das übrige wird von der Dortmunder Union zu einem Preis in Auftrag genommen, der in England abgelehnt worden ist. Ein englischer Konkurrent, den man fragte, warum er das deutsche Unternehmen nicht ausstechen könne, antwortete: Wer in aller Welt kann die Konkurrenz mit einem Bankrotteur aushalten?

In Schottland soll eine Eisenbahnbrücke über eine Meerenge in der Nahe von Edinburgh gebaut werden. Dazu werden 10.000 Tonnen Bessemerstahl benötigt. Wer akzeptiert den niedrigsten Preis, wer schlägt alle seine Konkurrenten, und das auf dem heimatlichen Boden der Eisengroßindustrie, in England? Ein Deutscher, ein Günstling Bismarcks in mehr als einer Beziehung, Herr Krupp aus Essen, der »Kanonenkönig«.

So steht es mit dem Eisen. Es versteht sich von selbst, daß dieses schöne System den unvermeidlichen Bankrott dieser miteinander verschworenen großen Unternehmen nur einige Jahre hinauszögern kann. Solange, bis die anderen Industrien es ebenso machen; und dann werden sie nicht die ausländische Konkurrenz, sondern ihr eigenes Land ruinieren. Man kommt sich vor, als lebe man in einem Narrenlande; und doch sind alle oben angeführten Tatsachen deutschen, bürgerlich-freihändlerischen Zeitungen entnommen. Die Zerstörung der deutschen Industrie organisieren unter dem Vorwand, sie zu schützen – sind die deutschen Sozialisten denn im Unrecht, wenn sie seit Jahren wiederholen, Herr Bismarck wirke für den Sozialismus, als werde er dafür bezahlt?

II. Die Staatseisenbahnen

Von 1869 bis 1873, während der steigenden Flut der Berliner Spekulation, teilten sich zwei bald einander feindliche, bald verbündete Unternehmen die Herrschaft über die Börse; die Disconto-Gesellschaft und das Bankhaus Bleichröder. Das waren sozusagen die Berliner Péreire und Mirès. Da die Spekulation sich in der Hauptsache auf die Eisenbahnen erstreckte, kamen diese beiden Banken auf den Gedanken, sich zu indirekten Herren der meisten großen, schon bestehenden oder noch zu bauenden Eisenbahnlinien zu machen. Durch den Ankauf und das Zurückhalten einer gewissen Anzahl Aktien einer jeden Linie könnte man ihre Vorstände beherrschen; die Aktien selbst würden als Garantie für Anleihen dienen, mit denen man neue Aktien kaufen könnte, und so weiter. Wie man sieht: eine bloße Wiederholung der findigen kleinen Operation, die den beiden Péreire zunächst den höchsten Erfolg brachte und dann mit der bekannten Krise des Crédit mobilier endete. Die Berliner Péreire waren anfänglich von gleichem Erfolg gekrönt.

Im Jahre 1873 kam die Krise. Unsere beiden Banken gerieten arg in die Klemme mit ihrem Berg von Eisenbahnaktien, aus denen man die Millionen, die sie verschlungen hatten, nicht mehr herausholen konnte. Das Projekt, sich die Eisenbahngesellschaften zu unterwerfen, war gescheitert. Man wechselte also die Stellung und versuchte, die Aktien an den Staat zu verkaufen. Das Projekt, alle Eisenbahnen in den Händen der Reichsregierung zu konzentrieren, hat zum Ausgangspunkt nicht das soziale Wohl des Landes, sondern das individuelle Wohl zweier zahlungsunfähiger Banken.

Die Ausführung des Projekts war nicht allzu schwer. Man hatte an den neuen Gesellschaften eine beträchtliche Anzahl von Reichstagsabgeordneten »interessiert«, so daß man die nationalliberale und die freikonservative Partei, das heißt die Mehrheit, beherrschte. Hohe Beamte des Reiches, preußische Minister hatten ihre Finger in dem Börsenschwindel gehabt, vermittels dessen diese Gesellschaften gegründet worden waren. In letzter Instanz war Bleichröder der Bankier und das Finanzfaktotum des Herrn Bismarck. Daher fehlte es nicht an Mitteln.

Vorerst mußte man jedoch, damit der Verkauf der Eisenbahnen an das Reich sich auch lohne, die Aktienpreise wieder hochtreiben. Deshalb schuf man 1873 das »Kaiserliche Eisenbahnamt«; sein Leiter, ein bekannter Börsenschwindler, erhöhte mit einem Schlag die Tarife aller deutschen Eisenbahnen um 20 Prozent; dadurch sollten die Reineinnahmen und demzufolge der Wert der Aktien um ungefähr 35 Prozent steigen. Das war die einzige Maßnahme, die dieser Herr durchführte; die einzige, derentwegen er das Amt übernommen hatte; kurz danach legte er es auch wieder nieder.

Unterdessen war es gelungen, Bismarck das Projekt schmackhaft zu machen. Aber die kleinen Königreiche leisteten Widerstand; der Bundesrat lehnte es rundweg ab. Neuer Stellungswechsel – man beschloß, daß erst einmal Preußen alle preußischen Eisenbahnen aufkaufen sollte, um sie gegebenenfalls dem Reich abzutreten.

Im übrigen gab es für die Reichsregierung noch ein verborgenes Motiv, das ihr den Ankauf der Eisenbahnen wünschenswert machte. Und das hängt mit den französischen Milliarden zusammen.

Von diesen Milliarden hatte man beträchtliche Summen zurückbehalten zur Bildung dreier »Reichsfonds«: den ersten zum Bau des Reichstagsgebäudes, den zweiten für Festungen, den dritten schließlich für die Invaliden der drei letzten Kriege. Die Gesamtsumme belief sich auf 926 Millionen Francs.

Von diesen drei Fonds war der bedeutendste und zugleich der sonderbarste der für die Invaliden. Er war dazu bestimmt, sich selbst zu verzehren, das heißt zu der Zeit, da der letzte Invalide gestorben wäre, würde auch der Fonds, sowohl das Kapital als auch die Einkünfte daraus, verschwunden sein. Einen Fonds, der sich selber verzehrt, sollte man wiederum meinen, könnten nur Narren erfinden. Aber keine Narren, sondern Börsenschwindler der Disconto-Gesellschaft hatten ihn erfunden, und aus gutem Grund. Daher war fast ein Jahr erforderlich, um die Regierung zur Übernahme dieser Idee zu bewegen.

Es schien jedoch unseren Börsenspekulanten, daß dieser Fonds sich nicht schnell genug verzehren werde. Sie glaubten zudem, die beiden anderen Fonds mit der gleichen schönen Eigenschaft, sich selbst zu verzehren, versehen zu müssen. Das Mittel war einfach. Noch bevor das Gesetz die Art der Werte festgelegt hatte, worin diese Fonds angelegt werden sollten, beauftragte man ein kommerzielles Unternehmen der preußischen Regierung, geeignete Wertpapiere zu kaufen. Dieses Unternehmen wandte sich an die Disconto-Gesellschaft, die ihm für die drei Reichsfonds Eisenbahnaktien im Werte von 300 Millionen Francs verkaufte, die damals nicht absetzbar waren und die wir im einzelnen aufführen könnten.

Unter diesen Aktien befanden sich Aktien der Eisenbahnlinie Magdeburg-Halberstadt und der mit ihr fusionierten Linien im Werte von 120 Millionen, einer Eisenbahn, die so gut wie bankrott war, die zwar den Börsenschwindlern große Gewinne verschafft hatte, jedoch kaum eine Aussicht bot, den Aktionären auch nur das Geringste einzubringen. Das wird verständlich, wenn man erfährt, daß der Vorstand Aktien im Werte von 16 Millionen ausgegeben hatte, um die Baukosten dreier Zweiglinien zu decken, und daß dieses Geld vollständig verschwunden war, bevor man mit dem Bau dieser Linien auch nur begonnen hatte. Und der Invalidenfonds ist stolz darauf, daß er eine beträchtliche Anzahl Aktien dieser nicht existierenden Eisenbahnen besitzt.

Der Erwerb dieser Linien seitens des preußischen Staates würde mit einem Schlage den Ankauf ihrer Aktien durch das Reich legalisieren; er würde ihnen einen gewissen realen Wert geben. Daher rührt das Interesse, das die Reichsregierung an diesem Geschäft hatte. Daher war die Linie, um die es sich hier handelt, eine der ersten, deren Ankauf von der preußischen Regierung vorgeschlagen und von den Kammern bestätigt wurde.

Die den Aktionären vom Staat zugestandenen Preise waren bedeutend höher als der reale Wert sogar guter Eisenbahnlinien. Das zeigt sich in dem ständigen Steigen der Aktienkurse, seit der Beschluß, sie anzukaufen, und besonders seit die Ankaufsbedingungen bekanntgeworden waren. Zwei große Linien, deren Aktien im Dezember 1878 auf 103 respektive 108 standen, sind inzwischen vom Staat angekauft worden; heute werden sie mit 148 und 158 notiert. Deshalb hatten die Aktionäre die größte Mühe, ihre Freude während des Handels zu verbergen.

Es braucht nicht betont zu werden, daß diese Kurssteigerung vor allem den großen Berliner Börsenspekulanten zugute kam, die in die Absichten der Regierung eingeweiht waren. Die Börse, die im Frühjahr 1879 noch ziemlich gedrückt war, erwachte zu neuem Leben. Bevor die Spekulanten sich endgültig von ihren teuren Aktien trennten, benutzten sie diese, um einen neuen Spekulationstaumel zu veranstalten.

Man sieht: das deutsche Kaiserreich steht ebenso vollständig unter dem Einfluß der Börse wie seinerzeit das französische Kaiserreich. Die Börsianer bereiten die Projekte vor, welche – zugunsten ihrer Geldbeutel – von der Regierung ausgeführt werden müssen. Dabei haben sie in Deutschland noch einen Vorteil, der dem bonapartistischen Kaiserreich fehlte: Wenn die Reichsregierung auf Widerstand seitens der kleinen Fürsten stößt, verwandelt sie sich in die preußische Regierung, die bestimmt keinen Widerstand in ihren Kammern finden wird, die ja wahre Filialen der Börse sind.

Na also! Hat der Generalrat der Internationale nicht bereits unmittelbar nach dem Kriege von 1870 gesagt: Sie, Herr Bismarck, haben das bonapartistische Regime in Frankreich nur gestürzt, um es bei sich wieder aufzurichten!

erschienen am 3./10. März 1880 in: »L'Égalité«, Nr. 7/10

drucken | zurückblättern | nach oben | Startseite


words provided by vulture-bookz.de | no legal rights claimed

html code & design by krischn, © 2003