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Lenin ~ Über deutschen und nichtdeutschen Chauvinismus


geschrieben im Mai 1916(?)

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W. I. LENIN

Über deutschen und nichtdeutschen Chauvinismus

Die deutschen Chauvinisten haben bekanntlich die überwältigende Mehrheit der Führer und Beamten der sogenannten sozialdemokratischen – in Wirklichkeit heute nationalliberalen – Arbeiterpartei ihrem Einfluß unterworfen. Inwieweit dasselbe von nichtdeutschen Chauvinisten vom Schlage der Herren Potressow, Lewizki und Co. zu sagen ist, werden wir später sehen. Gegenwärtig sind wir genötigt, gerade bei den deutschen Chauvinisten zu verweilen, zu denen wir gerechterweise auch Kautsky zählen müssen, wenngleich z. B. P. B. Axelrod in seiner deutschen Broschüre sehr eifrig und sehr zu Unrecht Kautsky verteidigt, indem er ihn für einen »Internationalisten« erklärt.

Ein Merkmal des deutschen Chauvinismus ist, daß die »Sozialisten« – Sozialisten in Anführungszeichen – von der Unabhängigkeit anderer Völker reden, nur derer nicht, die von ihrer eigenen Nation unterdrückt werden. Ob man dies nun direkt ausspricht oder ob man diejenigen, die das aussprechen, verteidigt, rechtfertigt und in Schutz nimmt – der Unterschied ist nicht sehr wesentlich.

Die deutschen Chauvinisten, zu denen auch Parvus zählt, der das Blättchen »Die Glocke« herausgibt, in dem Lensch, Haenisch, Grunwald und diese ganze Sippschaft der »sozialistischen« Lakaien der deutschen imperialistischen Bourgeoisie schreiben, sprechen z. B. sehr viel und gern von der Unabhängigkeit der von England unterdrückten Völker. Sowohl die Sozialchauvinisten Deutschlands – d. h. Sozialisten in Worten, Chauvinisten in der Tat – als auch die gesamte bürgerliche Presse Deutschlands schreien jetzt lauthals über das schamlose, gewalttätige, reaktionäre usw. Schalten und Walten Englands in seinen Kolonien. Die deutschen Zeitungen schreiben jetzt über die Freiheitsbewegung in Indien ohne Unterlaß, voller Schadenfreude, Begeisterung und Entzücken.

Die Gründe für die Schadenfreude der deutschen Bourgeoisie sind unschwer zu begreifen: Sie hofft, ihre militärische Lage dadurch zu verbessern, daß sie in Indien Unzufriedenheit und eine Bewegung gegen England entfacht. Natürlich sind diese Hoffnungen eitel, denn eine Beeinflussung des Lebens eines viele Millionen zählenden und sehr eigenartigen Volkes von außen her, aus der Ferne, in einer fremden Sprache, eine nicht systematische, sondern gelegentliche, nur für die Dauer des Krieges berechnete Beeinflussung – eine solche Beeinflussung ist ganz und gar nicht ernst zu nehmen. Es handelt sich dabei mehr um eine Selbstberuhigung der deutschen imperialistischen Bourgeoisie, mehr um den Wunsch, das deutsche Volk hinters Licht zu führen, seine Aufmerksamkeit von der Lage im Innern auf äußere Angelegenheiten abzulenken, als um die Absicht, auf Indien einzuwirken.

Es drängt sich aber eine allgemein-theoretische Frage auf: Wo ist die Wurzel des Betrugs bei derartigen Auslassungen zu suchen, welches ist das sichere, unfehlbar wirkende Mittel zur Entlarvung der Heuchelei der deutschen Imperialisten? Denn die richtige theoretische Antwort auf die Frage, wo sich der Betrug verbirgt, dient immer der Entlarvung der Heuchler, die aus nur allzu begreiflichen Gründen geneigt sind, den Betrug zu verdecken, ihn zu vertuschen, ihn in verschiedene prunkvolle Gewänder zu hüllen, ihn hinter Phrasen jeder Art, Phrasen über alles mögliche, Phrasen selbst über Internationalismus zu verbergen. In Worten bezeichnen sich als Internationalisten die Lensch wie die Südekum und die Scheidemänner, alle diese Agenten der deutschen Bourgeoisie, die leider noch Mitglieder der sogenannten »Sozialdemokratischen« Partei Deutschlands sind. Man darf aber die Menschen nicht nach ihren Worten, man muß sie nach ihren Taten beurteilen. Das ist längst bekannt. Wer wird denn in Rußland die Herren Potressow, Lewizki, Bulkin und Co. nach ihren Worten beurteilen? Selbstverständlich niemand.

Die Wurzel des Betrugs der deutschen Chauvinisten liegt darin, daß sie, während sie ihre Sympathie für die Unabhängigkeit der von ihrem militärischen Gegner, England, unterdrückten Völker nicht laut genug hinausschreien können, bescheiden – mitunter sogar allzu bescheiden – über die Unabhängigkeit der von ihrer eigenen Nation unterdrückten Völker mit Stillschweigen hinweggehen.

Nehmen wir z. B. die Dänen. Durch die Annexion Schleswigs riß Preußen, wie es alle »Groß«mächte tun, auch einen Gebietsteil mit dänischer Bevölkerung an sich. Die Verletzung der Rechte dieser Bevölkerung war so offensichtlich, daß bei der Abtretung der österreichischen »Rechte« auf Schleswig an Preußen entsprechend dem Prager Frieden vom 23.-30. August 1866 im Friedensvertrag festgesetzt wurde, daß die Bevölkerung der nördlichen Bezirke Schleswigs in freier Abstimmung zu befragen sei, ob sie eine Vereinigung mit Dänemark wünsche, und daß sie im Falle einer bejahenden Antwort mit Dänemark vereinigt werden sollte. Preußen erfüllte dies nicht und setzte 1878 die Aufhebung der für Preußen höchst »unangenehmen« Bestimmung durch.

Friedrich Engels, der den Chauvinismus der Großmachtnationen nicht unbeachtet ließ, hat auf diese Verletzung der Rechte eines kleinen Volkes durch Preußen besonders hingewiesen. Aber die heutigen Sozialchauvinisten Deutschlands, die in Worten das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennen, wie es auch Kautsky in Worten anerkennt, dachten und denken in Wirklichkeit nicht daran, eine konsequent und entschieden demokratische Agitation für die Befreiung einer unterdrückten Nation zu treiben, sobald es sich um die Unterdrückung seitens »ihrer« Nation handelt. Hier »liegt der Hund begraben«. Das ist der Kern der Frage des Chauvinismus und seiner Entlarvung.

Bei uns hat man viel darüber gewitzelt, daß das »Russkoje Snamja«, die »Reußenfahne«, sich sehr oft wie eine »Preußenfahne« benommen hat. Aber die Sache beschränkt sich nicht auf das »Russkoje Snamja«, denn die Herren Potressow, Lewizki und Co. argumentieren bei uns im Geiste derselben Prinzipien wie Lensch, Kautsky und Co. Man werfe z. B. einen Blick in das »Rabotscheje Utro« der Liquidatoren, und man wird genau dieselben »preußischen«, richtiger gesagt, international-chauvinistischen Argumente und Methoden der Beweisführung finden. Chauvinismus bleibt Chauvinismus, welchen nationalen Stempel er auch tragen, mit welchen pazifistischen Phrasen er auch verbrämt sein möge.

erschienen am 31. Mai 1916 in: »Woprossy Strachowanija«, Nr. 5 (54)

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