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Luxemburg ~ Das Problem der »hundert Völker«


geschrieben Anfang 1905

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ROSA LUXEMBURG

Das Problem der »hundert Völker«

Über dem Riesenreich der russischen Knute, dem letzten Schlupfwinkel des absolutistischen »Gottesgnadentums«, steigt endlich die blutige Morgenröte wenigstens einer bürgerlichen Freiheit auf. Der Emanzipation der internationalen Arbeiterklasse vom Joche des Kapitalismus geht notwendigerweise die Emanzipation des letzten modern-kapitalistischen Landes von den eisernen Windeln des Mittelalters voraus. Und da konnte es natürlich nicht fehlen, daß in den Kreisen der russischen und auch der internationalen Reaktion das bekannte alte Thema von der »Unreife« des Volkes für die bürgerlichen Freiheiten angeschlagen wurde. Man kennt die Weise, man kennt den Text. Es soll sich offenbar dasselbe gelungene Spiel, das schon mehrmals mit Erfolg gespielt worden, noch einmal wiederholen: die herrschenden Klassen glauben so lange nicht an die politische »Reife« des Volkes, als es gutwillig von ihnen die Gewährung seiner Rechte verlangt, als es auf ihre politische Einsicht und ihre menschlichen Gefühle noch etwas hält; der Glaube pflegt sich alsdann plötzlich einzustellen, nachdem das Volk mit festem Griffe dasjenige genommen hat, was ihm hartnäckig verweigert wurde; das politische Maturitätsexamen des »Volkes« scheint für die herrschenden Klassen jedesmal erst dann abgelegt zu sein, wenn es ihnen nach Lassalleschem Rezept rücksichtslos die Faust aufs Auge und das Knie auf die Brust gedrückt hat.

Nun, wenn es nicht anders geht, so soll es ja auch an dem arbeitenden Volke in Rußland in dieser Beziehung nicht fehlen, hat es doch den letzten Rest seiner politischen »Unreife«, die in der naiven Hoffnung auf eine friedliche Eroberung der politischhen Freiheit, auf eine friedliche Auseinandersetzung mit der Knute bestand, bereits gründlich abgestreift.

Aber die bürgerlichen Kannegießereien über die »Unreife« des Volkes sind an sich eine in mehrfacher Hinsicht interessante Erscheinung. Nichts Amüsanteres, als wenn sich ein Harden um die Schicksale der russischen Freiheit sorgt und aus seinem Brockhaus fleißig all die Balten, Polen, Finnen, Juden, Letten, Schweden, Armenier, Tscheremissen, Esten, Baschkiren, Kirgisen, Lappen, Kalmücken und Burjaten abschreibt, um zu dem Schlusse zu kommen, daß das Land der hundert Völker mit seinem Großstadtproletariat, das »beim ersten Schritt ins politische Leben ein Taumelrausch packt«, an dessen Sohle sich »die Raublust« heftet, und mit seinem Bauerntum, das nicht lesen noch schreiben kann, nimmermehr zu einem parlamentarischen Regime reif sei.

Es ist eigentlich recht merkwürdig, daß von der Höhe oder viel mehr von der Tiefe der bürgerlichen Dekadenz aus jeder Literatenbengel, an dem kein heiler Faden ist, sich berufen fühlt, über die Reife oder die Unreife ganzer Völker letztinstanzliche Urteile zu fällen. Und schließlich, wenn es sich um die eigene Haut handelt, wüßten sicher auch die Kirgisen, die Lappen und die Kalmücken die Antwort jener Karausche zu erteilen, die, befragt darüber, ob sie lieber gebraten oder gesotten werden möchte, kühl entgegnete, daß sie vor allem vorziehen würde, überhaupt nicht verspeist zu werden.

Die größte Komik liegt aber überhaupt in der rührenden alten Einbildung der Bourgeoisie, es gehöre Gott weiß welche politische »Reife« dazu, um des tiefsinnigen Mysteriums des bürgerlichen Parlamentarismus teilhaftig zu werden. Wie sollte in der Tat ein einfacher russischer oder polnischer Fabrikarbeiter, ja, ein Bauer in aller Welt verstehen, sich auf die schwindelnden Höhen der bürgerlich-parlamentarisien Politik aufzuschwingen? Jeder ordinäre Börsenjobber, jeder fettwanstige Kommerzienrat, jeder stupide Ostelbier, der nur mit der Reitpeitsche und im Kuhstall Bescheid weiß, sind natürlich zum Entscheiden über innere und äußere Politik der Staaten wie geschaffen, aber ein Proletarier, ein einfacher Bauer, »der nicht lesen noch schreiben kann«?!

Wenn diese Renommisterei je einigen Eindruck machen und einigen Glauben finden konnte, so war es höchstens in jenem ersten Taumel der bürgerlichen Demokratie, als sie noch mit der herrlichen Frucht des Parlamentarismus schwanger ging. Nun aber, nach einer etwa fünfzigjährigen parlamentarischen Praxis der kapitalistischen Länder, nachdem bereits alle Welt hinter das große Geheimnis von Sais geblickt und sich überzeugt hat, daß hinter dem Vorhang aber auch gar nichts steckt, was die normalen geistigen Kräfice eines ganz gewöhnlichen Sterblichen übersteigen würde, heute hat das Thema von der politischen Reife des russischen Volkes zur bürgerlichen Verfassung einen ganz besonderen Beigeschmack der unbewußten feinen Ironie und Selbstpersiflage. Zum Überfluß hat die Praxis des deutschen, wie des französischen, wie des italienischen Parlamentarismus zur Genüge gezeigt, daß gerade dieselben Klassen und Parteien, die mit Bedauern über die »Unreife« der Völker die Achseln zu zucken pflegen, es verstanden haben, das delikate und verwickelte Problem für das »Volk« äußerst zu vereinfachen – durch all die lieblichen internationalen Praktiken des Wahlschachers und des parlamentarischen Kuhhandels nämlich, die das »Volk« systematisch in ein urteilsloses und gehorsames Stimmvieh verwandeln. Es steht zu hoffen und ist sogar mit Sicherheit anzunehmen, daß sich auch in dem künftigen befreiten Rußland ein Zentrum, eine national-liberale Partei, ein Agrariertum finden, die sich des armen, unmündigen »Volkes« annehmen und es durch die Fährnisse des parlamentarischen Lebens mit fester Hand führen werden, wenigstens in der ersten Zeit, bis sie von der Sozialdemokratie der einträglichen Mühe enthoben und zu allen Teufeln gejagt werden.

Doch nichts verrät so gut den Grad der eigenen politischen »Reife« der heutigen Bourgeoisie, als wenn sie die Freiheit Rußlands gerade an dem nationalen Problem scheitern sieht. Die vielen Kirgisen, Baschkiren, Lappen usw., die übrigens in ihrer Mehrzahl, wie in jedem modernen Staate verschiedene Stämme und Stammüberbleibsel, an der Peripherie des Staatsgebiets ihr isoliertes und passives Dasein führen, ohne bei dem sozialen und politischen Leben Rußlands mehr mitzusprechen, wie etwa die Basken in Frankreich oder die Wenden in Deutschland, – diese unglücklichen Völker und Völklein stehen der russischen Freiheit im Wege. In der Tat: wie sollen etwa zwanzig Völker zusammen einen Reichstag wählen, wie sich miteinander über eine einheitliche Politik verständigen, wie gemeinsame Gesetze beschließen und ausführen? Eine Unmöglichkeit, eine unlösbare Aufgabe, ein Chaos! Deshalb muß es mit der bürgerlichen Freiheit im Zarenreich auf absehbare Zeit nichts werden. Was ist aber dabei mit anderen Worten ausgedrückt? Daß diesselbe unlösbare Problem, das keine Verfassung, kein Parlament, kein bürgerliches Gesetz zu lösen vermag, einzig und allein – durch die schöne Institution des Zarismus gestört werden kann. Die hundert Völker können offenbar nicht zusammen einheitliche Gesetze machen, aber die Frage ist gleich gelöst, wenn ihnen allen auf hundert Rücken dieselbe Knute ihre Gesetze schreibt! Sie können nimmermehr eine gemeinsame Parlamentssprache finden, aber das Zusammenleben wickelt sich glatt wie am Spinnrädchen ab, wenn allen den hundert Völkern ihre Sprache genommen, ihr Glaube vergewaltigt, ihre Sitten mit Füßen getreten werden. Die vielen Völker sind nicht reif, sich selbst schiedlich-friedlich gemeinsam zu regieren, aber ein Schwarm höherer und niedrigerer Tschinowniks, einige Dutzend blöder Generale mit roter Wodkanase und ein Rudel verschmitzter Diebe können die Verwaltung aller dieser Völker spielend besorgen. Mit einem Worte: die hundert Völker würden sich in einem modernen Verfassungsleben binnen zwei Tagen gegenseitig die Haare ausraufen, aber bei dem Knalle der alleinseligmachenden Knute des Absolutismus löst sich plötzlich aller gefährliche Hader in einen harmonischen Versöhnungsreigen auf, nach der alten Melodie:

»Tanzt Ihr Polen, tanzt Ihr Deutsche,
Alle nach derselben Peitsche...«

Es ist dies wieder ein kostbares Bekenntnis des Bürgertums, daß es heute wie seit jeher alle wichtigen sozialen und historischen Probleme, alle wirklichen Probleme der Politik und der Staatskunst, die nur irgend über die plumpste Politik des Essens aus der staatlichen Futterkrippe und die ebenso plumpe Kunst der Ausplünderung des Volkes durch parlamentarische Gewaltmittel hinausgehen, nicht anders zu lösen versteht, als indem sie mit ihrem vielgerühmten Parlamentarismus einpackt und alle Sorgen, die ihr die Weltgeschichte bereitet, einfach vertrauensvoll in die Hände – des Gendarrnen legt. Für die soziale Frage – Ausnahmegesetze, für die nationale Frage – die absolutistische Peitsche, so macht man's in Deutschland, so denkt man's für Rußland.

Tatsächlich geben schon die jetzigen Ereignisse eine deutliche Lehre, wie das nationale Problem in seiner modernen Gestalt allein gelöst wird und gelöst werden kann. Die gegenwärtige gemeinsame revolutionäre Erhebung des Proletariats – das ist zugleich der erste Akt der Völkerverbrüderung im Zarenreich. Alle Tücken und Nücken des Absolutismus, alle Künste der Völkerverhetzung haben nicht gefruchtet. Kischinew hat nicht gewirkt. Die systematische Brutalisierung der Polen hat nicht geholfen. Die Verfolgung der Unierten und der Katholiken hat versagt, – die Arbeiter verschiedener Zungen und Religionen waren alle eins im Kampfe gegen den Zarismus, haben alle gefühlt, daß in Petersburg Fleisch von ihrem Fleische, Blut von ihrem Blute gemordet werde und gerächt werden müsse. Und damit haben sie zugleich ihre proletarischen Klasseninteressen und die nationalen Interessen ihrer respektiven Völker am besten verfochten.

Die bürgerlich-nationalen Bewegungen haben ihre Ohnmacht gegenüber dem Absolutismus bewiesen. Die polnischen Aufstände vermochten seinerzeit trotz der furchtbarsten Opfer nicht nur den Zarismus in Rußland nicht zu erschüttern, sondern nicht einmal die kümmerlichen autonomen konstitutionellen Freiheiten Kongreßpolens vermochten sie zu schützen. Die Finnländer lebten fast ein Jahrhundert in ihrem nördlichen Winkel hinter den chinesischen Mauern ihrer geschichtlichen, sozialen, sprachlichen und politischen Abgeschlossenheit und kümmerten sich nicht im geringsten um das übrige Zarenreich und seine inneren revolutionären Kämpfe, in dem Wahne, daß an ihre »verbriefte und vereidigte« konstitutionelle Autonomie keine Stürme aus Rußlands Steppen heranreichen können. Beide Länder ereilte dann trotz entgegengesetzten Verhaltens dasselbe Schicksal: Polen, ungeachtet seiner stürmischen nationalen Unabhängigkeitskämpfe, Finnland ungeachtet seiner vornehm-zurückhaltenden »Loyalität« im Verhältnis zum zweiköpfigen Adler, verloren beide nacheinander den letzten Rest ihrer partikularistischen Freiheiten, ihre konstitutionelle Autonomie wurde von der Despotie des Stammrußlands aufgesogen. Die Geschichte des Martyriums aller Nationalitäten unter dem russischen Joche hat eines bewiesen: daß es keine autonomen Freiheiten auf irgendeinem Teile des Staatsgebiets geben könne, solange an den Stamm der Despotie nicht auch in Petersburg selbst die Axt gelegt wird. Diese Aufgabe ist aber ihrerseits wiederum als geschichtliche Klassenaufgabe dem vereinigten Proletariat aller Nationalitäten im Zarenreich zugefallen.

Und so ist heute in Rußland, wie bereits in Österreich, nicht bloß die bürgerliche Freiheit, sondern auch der Völkerfriede durch das klassenbewußte Proletariat allein vertreten. Es ist heutzutage ein öffentliches Geheimnis, daß Österreich nicht an der Vielheit der Nationalitäten, also gleichsam an einer vis major zugrunde geht, wie sich der Bierbankpolitiker bequemlichkeitshalber zu trösten liebt, sondern an dem wahnwitzigen Regierungs- und Verfassungssystem, das die Herrschaft in die Hände von Klassen und Parteien legt, deren Lebensaufgabe es ist, die Nationalitäten hintereinanderzuhetzen, während es die einzige Klasse und Partei vom politischen Einfluß ausschließt, die in diesem Falle wahrhaft »staatserhaltend« ist, weil sie auf die Aussöhnung und Zusammenfassung der Nationalitäten hinarbeitet – die sozialdemokratische Arbeiterklasse.

Auch in Rußland wird nicht die bürgerliche Freiheit an dem nationalen Problem zerschellen, sondern umgekehrt das nationale Problem durch die bürgerliche Freiheit gesunden, die aus der revolutionären Klassenaktion des Proletariats geboren wird.

in: »Die Neue Zeit«, 1904/05, 1. Band, Nr. 20 vom 8. Februar 1905

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